Stichwort | Angehörige
Viele Menschen, die regelmäßig bei den Verrichtungen des täglichen Lebens Hilfe brauchen, tauchen in keiner Statistik auf. Wenn der MDK feststellt, dass die Voraussetzungen für Leistungen aus der Pflegeversicherung nicht erfüllt sind, dann bleiben die pflegerischen Hilfen durch Angehörige für die Statistik weitgehend unbemerkt. Aber auch mit Pflegegrad und Pflegedienst leisten Angehörige oft mehr, als Außenstehende sich vorstellen können (Reiter, 2017). Die gesellschaftliche Bedeutung der familialen Pflege macht eine Zahl aus England deutlich: über 10% der Gesamtbevölkerung leisten regelmäßig pflegerische Hilfen für Verwandte oder Bekannte (Marsh, 2018).
Wie ist der Alltag für pflegende Angehörige? So wenig vorherzusagen wie das Leben von Menschen die pflegebedürftig sind. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat 2017 ein Interview mit Tabitha Maria Scheuer ⇗ veröffentlicht. Sie ist etwas über 20 „und pflegt seit Jahren ihre Eltern“. Lesenswert! Vom WDR TV gibt's einen realistischen Bericht: Mama pflegen: Schaffe ich das? ⇗ (2019).
Die pflegenden Angehörigen genießen weitgehenden Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Von dort gibt es einen Tipp gegen Überforderung: „Nutzen Sie frühzeitig die Beratungsangeote der Pflegestützpunkte, der Verbraucherzentralen, der Pflegekassen, der Wohlfahrtverbände oder anderer Einrichtungen, um sich ausführlich über Unterstützungs- und Finanzierungsmöglichkeiten zu informieren.“ (DGUV, 2018, Seite 8)
Im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB ⇗) werden Beschäftigte regelmäßig zur Qualität der Arbeit befragt. 2017 ging es auch um die Vereinbarkeit von Pflegeverantwortung und Erwerbsarbeit. „Dabei kam heraus, dass jeder elfte Beschäftigte neben seiner beruflichen Tätigkeit eine oder sogar mehrere Personen zu Hause pflegt, was zu Problemen führt. Teilzeit würde zwar helfen, doch dann entstehen finanzielle Lücken. Überwiegend Frauen und ältere Beschäftigte übernehmen die Pflegeverantwortung in der Familie. Im Durchschnitt kostet sie das 13,3 Stunden pro Woche.“ (VerDi, 2018) Diese Zahlen unterstreichen die gesellschaftliche Bedeutung der Leistungen pflegender Angehöriger. [Details des DGB zu Pflege und Erwerbsarbeit ]. Der Vorstandsvorsitzende des AOK–Bundesverbands rechnet (basierend auf Zahlen aus 2016) vor: „Multipliziert man die Pflegezeit von Angehörigen mit dem Mindestlohn, liegt die Wertschöpfung bei 37000000000€.“ Das übersteigt die gesamten Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung um mehr als 15%. (Schmid, 2019; Seite 32) Anders ausgedrückt: Das weitgehend ehrenamtliche Engagement für die Unterstützung von Pflegebedürftigen aus Familie und Freundeskreis, wäre mehr Geld wert, als heute für die gesamte professionelle Altenpflege ausgegeben wird.
Die Realität steht in krassem Widerspruch zu dieser Überlegung. Horst Vöge (VdK) beschreibt die Situation der pflegenden Angehörigen im Jahr 2020: „Gerade Frauen leiden unter der Mehrfachbelastung ... 'Neben Soforthilfe-Paketen und Entlastungsangeboten würde eine Pflegezeit mit Lohnersatz helfen, den schwierigen Spagat zwischen Home-Office, Kinderbetreuung und häuslicher Pflege zu meistern.' Schließlich verschärft die aktuelle Situation sowohl die Armutsgefährdung der Angehörigen, die im Job kürzer treten müssen, als auch der Betroffenen selber.“ (VdK-NRW, 2020a) Bestätigt werden diese Zusammenhänge 2024 von der AOK: „Fast jede vierte Hauptpflegeperson im Alter zwischen 18 und 65 Jahren hat die eigene Erwerbstätigkeit aufgrund der Übernahme von häuslicher Pflege reduziert oder ganz aufgegeben“ (Wido, 2024).
Marcus Klug schreibt 2017 über das Das Demenztagebuch von Katja Hörter ⇗, in dem sie berichtet, wie sie das letzte Jahr ihrer Großmutter begleitete.
In Zusammenarbeit mit der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ⇗ wurde ein online Angebot entwickelt, in dem „Sie erfahren was Demenzerkrankungen sind, welche Einschränkungen mit der Erkrankung einhergehen und wie sich das Leben der Erkrankten und ihrer Familie verändert. Sie erhalten Tipps und Hinweise zum Umgang und zur Kommunikation mit Menschen mit Demenz. Sie lernen Wege kennen, um Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen zu unterstützen.
Anmeldung auf www.demenz-partner.de.
Wundern oder ärgern Sie sich manchmal, wie hochbetagte Menschen behandelt werden? Birgit Schmid hat 2019 einen kurzen Text in der NZZ veröffentlicht: „Alte streicheln – Alte Menschen werden oft wie kleine Kinder behandelt. Man findet sie drollig, lacht über ihren Eigensinn, nennt ihre Zerbrechlichkeit herzig.“
Judith Luig schreibt einen Beitrag über den Alltag von Angehörigenpflege zwischen München und Köln. Den Eltern ein Leben zu Hause ermöglichen zwischen beruflichen Verpflichtungen, Betreuung der eigenen Kinder, Artzterminen, Hausreparaturen und Geschschwisterchatgruppe: Immer da und nie ⇗ (2019).
Entlastung im Pflegealltag
Wer pflegebedürftig ist und zu Hause lebt, ist in der Regel darauf angewiesen, dass Angehörige oder Freunde helfen. Fallen diese Pflegepersonen aus, kann es schwierig werden: das Duschen findet nicht mehr statt, der Kühlschrank leert sich und niemand sieht im Briefkasten nach. Ist die Pflegeperson im Urlaub oder selbst krank oder ... könnten Verhinderungspflege oder Kurzzeitpflege in Anspruch genommen werden. (Im Februar 2019 berichtet der Bayerische Rundfunk über die Situation der Kurzzeitpflege in Ingolstadt. Dort gibt es viel zu wenig Angebote. Das ist vielerorts so.)
Unter der Überschrift Stadtteilservice werden an mehreren Orten mit Unterstützung der Arbeitsagentur Hilfsangebote gemacht. Dabei geht es um Begleitung bei Einkäufen, Friedhofsbesuchen oder gemeinsamer Hausarbeit. (Solche Angebote gibt's zum Beispiel in Düsseldorf ⇗, Essen ⇗, Passau ⇗ oder Wuppertal ⇗). Menschen werden mit Ein–Euro–Jobs ausgestattet und bieten Älteren ihre Unterstützung als Stadtteilhelfer an. In Nord Thühringen bietet die Lebenshilfe Familienentlastende Dienste ⇗ an, die auch über die 125€ abgerechnet werden können.
Der NDR ⇗ meldet, dass es ab 2021 in Hamburg einen Pflegenotruf geben soll. Wenn Angehörige plötzlich ausfallen, muss schnelle Hilfe organisiert werden. Kurzzeitpflege und ambulante Pflegedienste haben von Jahr zu Jahr mehr Probleme, schnell zu reagieren. Der geplante Pflegenotruf solle nicht nur rund um die Uhr erreichbar sein, sondern auch Ressourcen bereit stellen, um in wenigen Stunden bei den Pflegebedürftigen in der Wohnung zu sein. (NDR, 2020a)
In der Fernsehsendung WISO (ZDF) gibt es allgemeine Tipps: Wohnen im Alter: Welche Wohnform ist die richtige? ⇗ (17. Juni 2019) ... Manchmal ist ein Umzug eine wirklich gute Idee.
Eine Lobbygruppe für pflegende Angehörige ist wir pflegen ⇗.
Leider gibt es für Pflegedienste wenig Möglichkeiten, die Unterstützung für Angehörige zu refinanziert zu bekommen. Was der professionellen Pflege möglich sein könnte, wenn Finanzierungen und Personalausstattung gut wären, steht in „Handlungsempfehlungen“ des Berufsverbands Pflegeberufe. Zum Beispiel: Beim Erstbesuch sollen „die Übernahmemöglichkeiten der pflegenden An- und Zugehörigen realistisch eingeschätzt werden, insbesondere um Überforderungen zu vermeiden ... In einer neuen bzw. veränderten Pflegesituation erfolgt zusammen mit den pflegenden An- bzw. Zugehörigen die gemeinsame Einschätzung des Pflege- und Betreuungsbedarfs.“ (DBfK, 2019b)
Viel besprochen und viel beworben werden 24 Stunden Pflege Verträge, bei denen Frauen (meist aus Osteuropa) auf Zeit im Haushalt der Pflegebedürftigen wohnen (Paaßen, 2017b). Dazu schreibt der Professor für Sozialrecht Stefan Sell: „Es gibt im Grunde keine wirkliche legale, also nicht gegen deutsche Arbeits- und Sozialgesetze verstoßende Ausgestaltung eines irreführend oftmals als '24-Stunden-Pflege' apostrophierten Betreuungsarrangements.“ (2019a) [mehr zu 24–Stunden–Pflege]
Ernährung
Eine wichtige Aufgabe, die von vielen pflegenden Angehörigen übernommen werden muss, ist die Ernährung. Meist schon nach wenigen Wochen tauchen dazu Fragen auf. Und wenn es nur ist: Was koche ich heute.
Die Ursachen für Appetitlosigkeit können vielfältig sein: Kau- und Schluckbeschwerden, Übelkeit, Durchfall oder Erbrechen. Das jemand Untergewicht hat, kann auch an innerer Unruhe liegen: Wer ständig in Bewegung ist verbraucht mehr Kalorien. Oft sind es Pflegende, die dann eingreifen müssen. In Altenheimen gilt es zusätzlich, viele bürokratische Vorschriften zu beachten. Wir haben grundsätzliche Überlegungen zu Untergewicht von Pflegebedürftigen beschrieben. Außerdem finden Sie praktische Tipps, wie von Angehörigen und von Profis aus Hauswirtschaft und Pflege reagiert werden kann.
Unsere Internetseiten zur Mangelernährung (überarbeitete Fassung August 2017).
Alte essen anders, unser Beitrag über eine Rezeptdatenbank der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (10. November 2017).
Ratgeber für Angehörige und Profis: Ernährung in der häuslichen Pflege von Menschen mit Demenz ⇗ der Deutsche Alzheimer Geselschaft (Link geprüft am 20. August 2019).
Und jetzt mal ganz alltäglich: Sie müssen nicht alles selbst machen, zum Beispiel: Staubsaugen. Allgemeines zu Saugrobotoren finden Sie in der Zeitschrift test Ausgabe März 2019 ⇗. Die meisten öffentlichen Bibliotheken haben test abonniert.
Entscheidungen am Lebensende
Wenige Pflegebedürftige sterben zu Hause. Manche können in den letzten Tagen ihres Lebens nicht mehr selbst (mit–)entscheiden, welche medizinischen und pflegerischen Massnahmen sie möchten – und welche nicht.
Mit solche Fragen setzt sich die Seelsorge der Kirchen seit Jahrhunderten auseinander. Die aktuelle Handreichung dazu ist die Broschüre Christliche Patientenvorsorge. darin werden die wichtigsten Fragen angesprochen, weit über juristische und medizinische Themen hinaus. Egal welcher Relegion Sie anhängen oder ob Sie ganz ohne Gott auskommen: „Das Formular und die erläuternde Handreichung sollen dabei helfen, sich mit dem Sterben und den eigenen Wünschen für den Umgang mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu befassen – und diese Wünsche verbindlich und wirksam festzuhalten.“
Broschüre Christliche Patientenvorsorge ⇗ bestellen oder herunter laden.
Wenn es darum geht, ob „die Maschinen abgestellt werden“ sollen, ob noch eine Krankenhauseinweisung mit Intensivmedizin sinnvoll ist ... oder nicht, ist es besonders schwierig, zu entscheiden. Manchmal können sich Angehörige und Gesundheitsprofis auch nicht einig werden. 2017 wird von einer Initiative der Landesärztekammer Hessen berichtet. (FAZ, 2017b) Der Verein für ambulante Ethikberatung ⇗ bietet den Menschen, die in Hessen wohnen, an die Beteiligten an einen Tisch zu hohlen. Dann soll in Ruhe über den Willen der Sterbenden gesprochen werden.
Urlaub/Kur
Es gibt verschiedene Organisationen, die spezielle Angebote machen, damit Demenzkranke mit ihren Angehörigen Urlaub machen können. Zum Beispiel www.wir-pflegen.nrw. Hier ein Einblick in eine Auszeit speziell für pflegende Angehörige ⇗.
Grundsätzlich besteht Anspruch auf „eine stationäre Kurmaßnahme für pflegende Angehörige. [Das] ist eine medizinische Leistung zur Vorsorge oder Rehabilitation nach § 23 SGB V ⇗ oder 40 SGB V ⇗, die von den Krankenkassen finanziert wird. In der Regel dauert die Kur drei Wochen.“ (MGW). In der Realität ist es nicht ganz einfach, einen Platz für eine solche Kurmaßnahme zu finden: die Nachfrage ist größer als das Angebot. Lassen sie sich helfen! Bundesweit bietet das Müttergenesungswerk Beratung zu solche Kuren ⇗ an. 2020 gehen regionale Kurberatungen für Nordrhein-Westfalen ⇗ an den Start. Thema für die Kurberatung ist auch, wie die Pflegebedürftigen in der Zeit der Kur unterstützt werden können.
Eine Internetsuche nach Pflegehotel ⇗ bringt zig Treffer ... Es gibt europaweit Angebote, die sich rühmen, auf die Bedürfnisse von Pflegebedürftigen und Angehörigen einzugehen. „Aber es fehlt der Überblick und Qualität sowie Vergleichbarkeit der Angebote“ ist nirgends gewährleistet (rbb, 2023).
Themenseite der Verbraucherzentrale: Urlaub für pflegende Angehörige ⇗ (Link geprüft am 27. August 2019)
Unter dem Motto Selbstbestimmt Leben ohne Barrieren für Menschen mit Körperbehinderung macht der gemeinnützige BSK e.V. Reiseangebote ⇗.
Sozialversicherung für pflegende Angehörige
Unter Umständen zahlt die Pflegeversicherung für Pflegepersonen in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Wer 12 Monate einem Pflegebedürftigen hilft (und die Voraussetzungen erfüllt) stockt die gesetzliche Rente bei Pflegegrad 2 um mindestens 5,40€ und bei Pflegegrad 5 um höchstens 29,86€ monatlich auf. (Stand 2017) 2016 als es noch die Pflegestufen gab, wurden von den Pflegekassen etwa 1 Mrd € an die Rentenversicherung überwiesen. 2017, im ersten Jahr mit den Pflegegraden, stieg dieser Betrag auf über 1,5 Mrd €. (Handelsblatt, 2018) Wer selbst „Vollrente“ bezieht, hat keinen Anspruch auf die Beitragszahlungen der Pflegeversicherung. Anders ist das bei „Teilrente“ - dann wird gezahlt. Insbesondere Frauen, die selten durchschnittliche Rentenansprüche haben, können profitieren - Es sind auch 99.99% Teilrenten möglich. (vdk, 2023b)
[ Mehr zur Rentenversicherung für Angehörige].
Pflegende Angehörige sind während der Pflege über die Pflegekasse in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. [Mehr zur Unfallversicherung für Angehörige].
Die so erworbenen Rentenansprüche sind nicht sonderlich hoch. Wichtig sind sie trotzdem. Wer die Arbeitszeit wegen Pflegeverpflichtungen reduziert, verzichtet nicht nur in der Gegenwart auf Einkommen, sondern wird auch eine geringere gesetzliche Rente bekommen. (Handelsblatt, 2018c) Frauen engagieren sich weit umfangreicher als Männer bei der Unterstützung pflegebedürftiger Angehöriger. Es sind also auch mehr Frauen als Männer von den materiellen Folgen betroffen. (Frey, 2021)
Im Vereinigten Königreich sind die Sozialleistungen völlig anders organisiert. Am Ende ist die Situation für pflegende Angehörige aber ähnlich: Wer einen Arbeitsplatz für zeitaufwendige Pflege kündigt, kommt schnell in die Nähe der Armutsgrenze. (Ein Artikel in dem das auf Pfund und Pence vorgerechnet wird: The Guardian, 2019b)
Pflegezeit für Angehörige
Wenn jemand neu akut pflegebedürftig wird, können nahe Angehörige Anspruch auf Arbeitsbefreiung bis zu 10 Tagen haben (§ 2 PflegeZG ⇗ und § 44a SGB XI Absatz 3 ⇗). Als Pflegezeit wird auch die geplante auch teilzeitliche Befreiung von der Arbeit bis zu 24 Monaten (§ 3 PflegeZG ⇗ und § 4 PflegeZG ⇗). Für die Begleitung Angehöriger in der letzten Lebensphase zu Hause oder in einem Hospiz haben Angehörige einen Rechtsanspruch darauf, drei Monate lang weniger zu arbeiten oder auch ganz auszusetzen (§ 3 (6) PflegeZG ⇗). Manche dieser Regelungen gelten nur für Betriebe mit mehr als 15 oder mehr als 25 Angestellten.
[Mehr über die Pflegezeit ...]
Seit Jahren werden verschiedene Formen der Pflegezeit angeboten – das wird kaum genutzt (Sell, 2019c). 2018 geht der VdK mit der Forderung an die Öffentlichkeit, Analog zur Elternzeit eine „Pflegepersonenzeit“ zu schaffen. Pflegende sollten einen Rechtsanspruch darauf haben, teilweise oder vollständig von der Arbeit freigestellt zu werden. Dazu müsste es auch eine Geldleistung geben. (VdK, 2018c)
Die Sozialogin Tine Haubner argumentiert: Politische Reformen zur „Stärkung“ der Angehörigenpflege zielen vorwiegend auf Menschen, die wenig Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Sie seien „sozial verwundbar“ und ihre pflegerische Arbeit könne „kostengünstig genutzt werden“. Dies sei auch ein Beitrag zur „Deprofessionalisierung und Informalisierung pflegerischer Dienstleistungen“ – Pflege werde als eine „Jederfrautätigkeit“ gesehen, „bei der es primär auf Empathie und weniger auf Qualifikation ankommt“. (Haubner, 2017) Auch vier Jahre später ist bei der Hilfe durch Angehörige „von Gleichberechtigung keine Spur. Frauen pflegen viel häufiger als Männer, auch wenn sie gute Jobs haben.“ (Frey, 2021)
Elternunterhalt
Eltern müssen für den Lebensunterhalt ihrer kleinen Kinder sorgen. Diese Verpflichtung wird mit zunehmendem Alter schwächer ... und ist eine (fast) unumstrittene Selbstverständlichkeit. Viele wissen nicht, dass die Unterhaltspflicht auch in die andere Richtung besteht: Kinder müssen für den Lebensunterhalt ihrer Eltern sorgen. Das kann besonders dann belastend werden, wenn nach einem Umzug in ein Altenheim, der Eigenanteil, den Pflegebedürftige zu zahlen jaben, Monat für Monat mit knapp 2000€ zu Buche schlägt. Dazu hat der mdr ⇗ eine Beispielrechnung veröffentlicht:
Von 3000€ „bereinigtem“ Nettoeinkommen sind Unterhaltsverpflichtungen (zum Beispiel für eigene Kinder) abzuziehen. Das könnten für ein elf-jähriges Kinder 365€ sein. Dann gibt es einen „Selbstbehalt“. Das ist eine Pauschale, um den Eigenbedarf des Unterhaltspflichtigen abzudecken. Das könnten 1800€ sein.
3000€-(365€+1800€)=835€
Davon seien 50%, also 417,50€ als Elternunterhalt anzusetzen. Aufwendungen der Unterhaltspflichtigen für die eigene Altersvorsorge können die Unterhaltszahlungen mindern. (mdr, 2019b) Auf dieser Grundlage lässt sich erahnen, in welcher Größenordnung sich Elternunterhalt abspielt.
Im November 2019 hat der Bundestag beschlossen: Der „Kostenanteil für Eltern über 18-jähriger Pflegebedürftiger ... wird nur noch für Menschen fällig, die ein Bruttojahreseinkommen von mindestens 100.000 Euro haben. Alle, die weniger verdienen, müssen künftig nicht mehr für die Unterbringung und Pflege ihrer Angehörigen zahlen. (SPD, 2019) Diese Regelung gilt seit Anfang 2020 (test, 2020a). (Bericht über die Debatte auf www.bundestag.de ⇗)
Wie so vieles in der Sozialpolitik, hat auch dieser Gesetzesentwurf viele Haken und Ösen. Das beschreibt Stefan Sell im Detail: Das „Angehörigen-Entlastungsgesetz“ ⇗ (2019d).
Weitere Tipps
Tipp: Online Beratung
Die aok macht mit dem Familiencoach Pflege ein online-Angebot. Man möchte „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten. Und damit möglichst vielen pflegenden Angehörigen geholfen werden kann, ist das kostenlos:
Aus der Projektbeschreibung:
„Einen Angehörigen zu pflegen kann sehr anstrengend sein – auch für die Seele. Das Online-Selbsthilfe-Programm möchte Ihnen daher dabei helfen, die Gesundheit Ihrer Psyche zu stärken und sich vor Überlastung zu schützen. Anhand von Tipps, interaktiven Übungen, Videos und Audios lernen Sie, wie Sie mit den seelischen Herausforderungen umgehen können, die für die meisten Pflegenden beschwerlich sind.
Das Online-Programm beinhaltet keine persönliche Beratung.“
Zum Familiencoach Pflege: www.pflege.aok.de
Broschüre: Entlastung für die Seele. Ein Ratgeber für pflegende Angehörige ⇗ (Bestell- und Downloadseite)
Tipp: MRE/MRSA
Manchmal kommt zur Pflegebedürftigkeit noch eine Infektion mit „Krankenhauskeimen“ genauer: mit „multi-resistenten Erregern“ (MRE, früher MRSA) hinzu. Angehörige und Betroffene bekommen dann oft viele widersprüchliche Informationen. verständliche Hinweise zum Umgang mit MRE.
Tipp: Ausweispflicht
In Deutschland besteht die Pflicht einen gültigen Ausweis zu haben. Wer pflegebedürftig ist und kaum noch aus dem Haus kommt, ist kaum in der Lage, den Personalausweis pünktlich verlängern zu lassen. Das kann bei Banken, Krankenhäusern und Behörden zu Schwierigkeiten führen. Beim VdK gibt's einige Hinweise ⇗ zu diesem Problem ... Es sei auch möglich, sich von der Ausweispflicht befreien zu lassen. (VdK, 2020b)
Geldwerter Tipp: Stromrechnung
Hilfsmittel wie Wechseldruckmatratze ⇗ oder Sauerstoffkonzentrator ⇗ brauchen Energie. Das ist in einer Stunde nicht viel ... in den vielen Stunden eines Jahres macht sich das aber auf der Stormrechnung bemerkbar. Auch Treppenlifte und die Akkus von Scootern oder Elektrorollstühlen ziehen viel Strom, wenn sie häufig benutzt werden. Otto Beier erklärt auf www.pflege-durch-angehoerige.de, dass die gesetzlichen Kassen grundsätzlich verpflichtet sind die Stromkosten für verordnete Hilfsmittel zu übernehmen.
Geldwerter Tipp: Steuererklärung
Manche Pflegende Angehörige können bei der Steuererklärung als außergewöhnliche Belastung den Pflege-Pauschbetrag ⇗ (924€) geltend machen. Wichtige Voraussetzungen: Pflegegrad 4 oder Pflegegrad 5 oder das Merkzeichen H im Schwerbehindertenausweis ⇗. Unter Umständen ist es auch möglich mehr als 924€ pro Jahr abzusetzen.
Ab dem Jahr 2021 werden diese Vergünstigungen deutlich aufgestockt: Der Pflege-Pauschbetrag wird „auf 1800€ angehoben. Voraussetzung ist, dass die Betreuung in der häuslichen Umgebung erfolgt, also entweder in der Wohnung des Angehörigen oder zuhause bei der pflegenden Person.“ Neu ist das es ab 2021 auch bei niedrigeren Pflegegraden Steuererleichterungen gibt:
Pflegegrad 2 – Pflege-Pauschbetrag 600€
Pflegegrad 3 – Pflege-Pauschbetrag 1100€ (VZ NRW, 2020a)
Die Steuervergünstigungen für haushaltsnahe Dienstleistungen könnten auch in Frage kommen (Schmid 2019, Seite 105f). Lassen Sie sich beraten!
Geldwerter Tipp: Erben
Im Bürgerlichen Gesetzbuch wird auch vieles zu Erbschaften geregelt. Im §2057a ⇗ steht, wer „durch Mitarbeit im Haushalt, Beruf oder Geschäft des Erblassers während längerer Zeit ... in besonderem Maße dazu beigetragen hat, dass das Vermögen des Erblassers“ zu erhalten, ist bei der Verteilung des Erbes besonders zu brücksichtigen. „Dies gilt auch für einen Abkömmling, der den Erblasser während längerer Zeit gepflegt hat.“
Diese allgemeinen Formulierungen müssen im Einzelfall sicher mit anwaltlicher Hilfe gedeutet werden.
Der VdK formuliert allgemein: „Anspruch auf den Besuch eines Pflegekurses oder eine Schulung zu Hause haben alle Angehörigen sowie Pflegepersonen, die einen Pflegebedürftigen zu Hause versorgen oder dies künftig möglicherweise tun.“ (VdK, 2019b)
Zukunftsmusik ...
Bis zu 1700€/Monat für pflegende Angehörige ...
... das verspricht ein neues Modell im Bundesland Burgenland (Österreich). Dabei wird das „Gehalt“ von einer landeseigenen GmbH gezahlt. Das soll nicht mit der Gießkanne verteilt werden, sondern Zahlungen sind gestaffelt und an Bedingungen geknüpft. (PSB, 2020; Sell, 2020a) Trotzdem: Diese Anerkennung für die Leistungen pflegender Angehöriger ist ein bedeutendes Signal!
* Das steht so in einer Broschüre der gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV, 2018): Zu Hause pflegen - So kann es gelingen ⇗, (Pressemitteilung mit Link zum Download)
Quellen:
(1) Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg, 2017, Seite 11
– Ambulante Ethikberatung in Hessen e.V.: Unterstützung in ethischen Entscheidungssituationen im heimischen Umfeld (Flyer)
– aok (ohne Jahresangabe): Familiencoach Pflege ⇗, frei zugängliches Online-Beratungsangebot für pflegende Angehörige (Link geprüft am 22. September 2020)
– Bayerischer Rundfunk, 2019a
– Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), 2021b: Entlastung für die Seele. Ein Ratgeber für pflegende Angehörige ⇗, Broschüre, 2021
– Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), 2018
– Deutscher Bundestag (2019): Bundestag entlastet Kinder pflegebedürftiger Eltern ⇗, Bericht zum 27. November 2019
– Deutscher Berufsverband Pflegeberufe, DBfK (2019b): Begleitung fachfremder Pflegender in der ambulanten Versorgung ⇗, Handlungsempfehlung der BAG Pflegeunternehmer/innen im DBfK
– FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), 2017
– FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), 2017b: Hilfe bei Konflikten in der Pflege ⇗, Artikel von Marie Lisa Kehler auf www.faz.net
– Frey, Carina (2021): Pflege zu Hause: Von Gleichberechtigung keine Spur ⇗
– Handelsblatt, 2018
– Haubner, Tine (2017):„Aufbruch in der Sorgekultur“ ─ aber wohin? Zum Einsatz von Laienpflegekräften im Kontext der deutschen Pflegekrise ⇗
– Klug, Marcus (2017)
– Luig, Judith (2019): Immer da und nie ⇗, eine Kolumne über den Alltag von Angehörigenpflege zwischen München und Köln. Erschienen auf www.zeit.de am 18. Oktober 2019
– Marsh, Sarah (2018)
– MDR, 2019b: Wenn Kinder für die Pflege ihrer Eltern aufkommen müssen ⇗, Beitrag auf www.mdr.de vom 29. August 2019
– Ministerium für Arbeit und Soziales NRW (2020): Land NRW fördert die Kurberatung für pflegende Angehörige ⇗
– Müttergenesungswerk (MGW; ohne Datumsangabe): Die Kur für pflegende Angehörige ⇗
– NDR, 2020a: Hamburg will einen Pflegenotruf einrichten ⇗, Beitrag vom 3. Februar 2020
– Pflege Service Burgenland (PSB), 2020: Mehr Sicherheit und Wertschätzung für Burgenländer*innen, die pflegebedürftige Angehörige betreuen ⇗, Themenseiten zum „Lohn für pflegende Angehörige“
– rbb, 2023: So funktioniert Urlaub für Pflegebedürftige
– Reiter, Anja (2017)
– Schmid, Birgit (2019): Alte streicheln ⇗, Kolumne auf www.nzz.ch am 13. September 2019
– Schmid, Raimund (2019): „12 Wege zu guter Pflege“
– Sell, Stefan (2019a)
– Sell, Stefan (2019c): Von 2015 bis Mitte 2019 haben in ganz Deutschland 921 Darlehen im Rahmen von Pflegezeit in Anspruch genommen.
– Sell, Stefan (2019d): Das „Angehörigen-Entlastungsgesetz“ und seine Einordnung auf der weiterhin unübersichtlichen Baustelle der Pflegefinanzierung ⇗
– Sell, Stefan (2020a): Neue Wege für pflegende Angehörige, die ihren Beruf aufgeben müssen: Eine Anstellung beim Bundesland und eine Bezahlung bis 1.700 Euro netto pro Monat. In Österreich ⇗, Artikel von Stefan Sell in seinem Blog www.aktuelle-sozialpolitik.de vom 15. Januar 2020
– SPD Bundestagsfraktion (2019)
– test (Zeitschrift) die Ausgabe März 2019 ⇗ bringt auch Artikel zu den Themen: Saugroboter, Vorsorgevollmacht, Vitaminpräperate, Rollatoren
– test, 2020a: Eltern im Pflegeheim Wann Kinder jetzt noch zahlen müssen ⇗ (13. Februar 2020)
– The Guardian, 2019b: Becoming a carer for my father has been financially disastrous ⇗
– VdK, 2018c
– VdK (2019b): Pflegeberatung & Pflegekurse für Angehörige: Tipps für die Pflege ⇗
– VdK (2020b): Ausweis abgelaufen – was nun? ⇗
– VdK (2023b): „Technische Probleme bei der Teilrente“, in: VdK Zeitung, Ausgabe Juni 2023, Berlin, Seite 6
– VdK-NRW (2020a): Hohes Armutsrisiko für Pflegebedürftige und deren Angehörige ⇗
– Verbraucherzentrale (VZ) NRW, 2020a: Das ändert sich 2021 bei Arbeit, Ausbildung und Abgaben ⇗
– VerDi, 2018
– WDR, 2019a
– Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), 2024: WIdOmonitor: Pflegende Angehörige wenden im Schnitt 49 Stunden pro Woche für häusliche Pflege auf – mit Folgen für die Erwerbsarbeit
[ausführliche Quellenangaben]