Nachrichten aus der Pflege | 20. Februar 2021
Es ist ein Privileg zu pflegen
Ein paar Monate nachdem das abendliche Applaudieren für die Pflege verebbte, bekomme ich ein Mutmachbuch in die Hand: „Berufsstolz in der Pflege“. 342 Seiten Motivation für den Alltag als Pflegefachkraft? Ich bin gespannt.
Sind Sie stolz auf Ihren Pflegeberuf? Spontan scheint das eine Frage mit einer kurzen Antwort zu sein. Den Autor*innen ist sie 42 Kapitel wert.
Sie liefern zum Beispiel Situationsbeschreibungen aus dem Arbeitsalltag verschiedener Pflegender: Operationspflege, Notaufnahme, onkologische Pflege, Neonatologie, Palliativ–Pflege, ambulante Pflege, private Pflege, Heimbeatmung … (Kapitel 8) Das wirkt in diesen Skizzen viel interessanter, als in den meisten Broschüren, die in Arbeitsagenturen ausliegen.
„Welche Situationen fallen Ihnen ein, in denen ihre Arbeit Ihnen besondere Freude gemacht hat?“ (Seite 98)
Das klingt einfach. Als Praxisanleitung mache ich immer wieder die Erfahrung, dass sowohl Lernende als auch Teammitglieder auf diese Frage nur stammelnd reagieren. Fällt Ihnen selbst ein Erlebnis ein, dass Sie kurz erzählen könnten? In der Schlange am Buffet oder in der Pause vom Elternabend?
Das Kapitel 14 widmet sich der Ökonomisierung. Auch hier wird deutlich: grundsätzliche Kritik an der Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens ist nötiger denn je. „Zwar werden in vielen Klinik–Leitbildern Werte wie Patientenorientierung ganz oben verankert, aber gleichzeitig steuern dort ausschließlich betriebswirtschaftliche Prinzipien der Profitmaximierung den Berufsalltag“ der Gesundheitsprofis (Seite 147). Im Alltag der Pflege kommt der Dokumentation von einzelnen Handlungsschritten immer größere Bedeutung zu. Was aber nicht benannt, was nicht gemessen werden kann, wird von den betriebswirtschaftlichen Werkzeugen nicht erfasst. Also auch nicht finanziert. Also auch nicht im Stellenplan berücksichtigt. „Somit geht mit der Digitalisierung ‚nur‘ die normale Gefahr der weiteren Rationalisierung der Pflege einher“, wird Frank Weidner zitiert (Seite 175).
Es sind unzählige Statements aus dem Pflegealltag im Buch zu finden, die über diesen Alltag hinaus weisen. Zum Beispiel: „Wir teilen essen aus, räumen Lagerbestände auf, fahren Patiententransporte, füllen Entlass–Managementdokumente aus und so weiter – aber haben keine Zeit für ordentliche Pflege, Visitenbeteiligung, Patienten–/Angehörigen Beratungen? Da muss sich was ändern, sonst wird der Beruf nicht attraktiver.“ (Seite 144)
Eines der vielen Themen, die sonst eher selten angesprochen werden: Arbeit mit Assistenzkräften und Angelernten. Auch hier wird deutlich, wie umfangreich die Verantwortung von Pflegefachpersonen im Alltag ist. Gern hätte ich auch Abschnitte über Freud und Leid von Schichtleitungsverantwortung, Praxisanleitung oder Sicherung von Pflegequalität gelesen.
Die vielen Quellen, ob gedruckt oder online, wecken wieder und wieder mein Interesse. Ich könnte wohl Monate lang den Recherchen der beiden hinterher lesen. Da haben sich zwei mit viel Erfahrung und wissenschaftlicher Akribie bemüht, so ziemlich alles zusammen zu tragen, was die Motivation der beruflich Pflegenden steigern könnte.
Das Buch bringt sehr persönliche Erfahrungsberichte aber auch hochwissenschaftliche Argumentationen. Nach eine solchen Mischung sollten sich alle die Finger lecken, die für innerbetriebliche Fortbildungen Verantwortung tragen.
„Zu den größten Ängsten der Deutschen gehört diejenige, Opfer eines Terror Anschlags zu werden… Laut Deutscher Gesellschaft für Krankenhaushygiene kann man von etwa 1 Millionen nosokomialer Infektionen pro Jahr ausgehen. Viele davon hätten durch pflegerische Prophylaxe vollständig verhindert werden können.“ (Seite 221) Tausende dieser vermeidbaren Erkrankungen enden tödlich. |
Über die Zukunftsaussichten von Pflegefachpersonen: „Da der Arbeitsmarkt für dreijährige ausgebildete Pflegefachleute nahezu zusammengebrochen ist, gehört die Möglichkeit zur Personalauswahl endgültig der Vergangenheit an. Heute geht es vor allem darum, Mitarbeitende in der Pflege zu halten, zu binden und zu entwickeln.“ (Seite 171)
Mit diesem Gedanken aus dem Jahr 2017 klicke ich mich durch aktuelle Stellenausschreibungen … Die sind 2021 hübscher als vor 20 Jahren. Die ein oder andere Formulierung bemüht sich „junge Menschen“ anzusprechen. Der größte Teil der Pflegeeinrichtungen scheint aber seine Angebote an die Mitarbeitenden seit dem Beginn des Jahrhunderts kaum verändert zu haben. Verlässlichkeit von Dienstplänen, Förderung von Spezialisierungen jenseits von Stationsleitungen, selbst Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleiben Randbemerkungen. So, als ob es um „Blümchenthemen“ ginge und nicht um wesentliche Bausteine der Zukunftssicherung von Pflegeunternehmen.
Im Kapitel Projekte und Kampagnen werden die Pflegeprofis aufgefordert, in lokalen und regionalen politischen Gremien aktiv zu werden. Darauf folgt der Aufruf:
„Organisiert euch!“
… in Gewerkschaften, Berufsverbänden, Pflegekammern/Berufsregister!
Solch optimistisches Engagement wird Anfang 2021 untergraben. Zur Abstimmung über die Zukunft der Pflegekammer Schleswig-Holstein* läuft eine Kampagne gegen den Fortbestand der noch jungen Interessenvertretung und für die Selbstverzwergung* unseres Berufs. Quernheim und Zegelin sind offensichtlich brandaktuell!
Die Autor*innen fordern die Pflegekräfte auf, positiv über ihre berufliche Arbeit zu sprechen. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zu einer rosaroten Brille, die Erwin Rüddel (MdB, CDU) 2018 der Pflege verordnen wollte. Er verkündete auf Twitter #gutezeitenfürgutepflege. Die Pflegebubble retounierte mit #TwitternWieRueddel*. Es ist nicht leicht Menschen, die nach neuen beruflichen Aufgaben suchen, für Pflegeberufe zu interessieren ohne belastende Arbeitsbedingungen zu überzuckern.
Zielgruppen für dieses Buch seien Pflegende, die sich über ihre Berufstätigkeit Gedanken machen, ihre Arbeitsbedingungen reflektieren, um „wenn nötig, zu verändern und erfolgreich, gesund und zufrieden ihren Beruf zu genießen“. Ich habe so meine Zweifel, dass sich viele meiner Kolleg*innen mit 342 Seiten zum Thema Berufsbild und berufliches Selbstverständnis auf die Wohnzimmercouch setzen.
Darüber hinaus möchten Quernheim und Zegelin Berufsangehörige aus den zukünftigen »out Berufen« für die Pflege interessieren. (Seite 20; Was hier gemeint ist? Immer mehr Arbeitsprozesse werden computerisiert. Denken Sie zum Beispiel mal an Ihren letzten Besuch in einer Bankfiliale. Da erwarteten Sie vor 30 Jahren mehrere, gut bezahlte Kaufleute, um individuellen Service zu ermöglichen. 2021 gibt‘s online Banking und Automaten für Ein- und Auszahlungen. Bankkaufleute haben einen »out Beruf«.) Berufswahlentscheidungen stehen oft mit 40 erneut an.
Dieses Buch sollte in keiner Bibliothek einer Pflegeschule fehlen. Es sollte allen Leitungskräften in der Pflege zugänglich gemacht werden. Es ist auch ein sehr angemessenes Geschenk zum Abschluss einer Weiterbildung zur Praxisanleitung.
Das Schlusswort geht an Quernheim und Zegelin (Seite 21):
Unser Buch soll Balsam für das Ego engagierter beruflich Pflegender sein. |
Berufsstolz in der Pflege. Das Mutmachbuch |
* Mehr lesen ...
☞ Harte Zeiten, wenig Lohn - Tag der Pflege: ‚Klatschen reicht nicht‘, Beitrag auf www.zdf.de vom 12. Mai 2021 (Link geprüft am 21. Februar 2021).
☞ Abstimmung 2021, Themenseite auf www.pflegeberufekammer-sh.de, (Link geprüft am 21. Februar 2021).
☞ Helden der Selbstverzwergung, Kommentar von Charlotte Parnack auf www.zeit.de vom 17. Februar 2021 (Link geprüft am 21. Februar 2021).
☞ #twitternwierueddel, Beitrag von Georg Paaßen auf www.pflegegrad.info vom 28. Februar 2018 (Link geprüft am 21. Februar 2021).
☞ Prognosen über die Zukunft der Berufe auf www.job-futuromat.iab.de (Link geprüft am 21. Februar 2021).
☞ Who Cares – Wege aus der Krise der Sorge Berufe, Broschüre auf aus dem Jahr 2018 www.paritaet-bayern.de [.pdf Datei] (Link geprüft am 19. Februar 2021).
Die Überschrift: „Es ist ein Privileg zu pflegen“, finden Sie im Buch auf Seite 76.