Nachrichten aus der Pflege | 27. Juli 2018
Ambulante Pflege ohne Smartphone? Undenkbar!
Wo für Lohn gearbeitet wird, wird ständig versucht, das Arbeitsergebnis zu mehren. Auch pflegerische Tätigkeiten werden mehr und mehr für die Verwendung von Arbeitszeit sparenden technischen Hilfsmitteln umorganisiert. Die pflegewissenschaftliche Masterarbeit von Sabine Daxberger widmet sich dieser Entwicklung im Bereich der ambulanten Pflege.
Rezension zu: Neue Technologien in der ambulanten Pflege. Wie Smartphones die Pflegepraxis (mit-)gestalten von Sabine Daxberger.
Seit mehr als 15 Jahren bin ich in der ambulanten Pflege unterwegs. 2002 waren unsere wichtigsten technischen Geräte die Autos. Nokia Mobiltelefone gab‘s nur für die Rufbereitschaft. Dokumentation und Abrechnung erfolgten vollständig mit Stift und Papier. Kopierer und Fax führten ein Schattendasein. Es galt ein Standpunkt aus den 1980er Jahren: „Technik wird als hinderlich für die Beziehungsarbeit in der Pflege gesehen.“ (Seite 11)
2018 wäre, falls das Smartphone beschädigt oder stromlos ist, pflegerisches Arbeiten in der häuslichen Versorgung unmöglich: Wir wüssten nicht wohin und in welcher Reihenfolge (die Touren sind von Tag zu Tag unterschiedlich) und die Buchhaltung hätte keine Daten, um Rechnungen zu schreiben. Diese Entwicklung ging in vielen kleinen Schritten voran, getrieben einerseits von Kostenträgern, die abrechnungsrelevante Daten eigentlich nur noch digital entgegennehmen und andererseits von Managementkonzepten, die für die Industrie entwickelt wurden (siehe: Diana Auth, 2017). So pflegen zehntausende Kolleg*innen in den Wohnungen unter Rahmenbedingungen, die durch Möglichkeiten und Grenzen von Taschencomputer und Software bestimmt werden. „Zum Nutzen neuer Technologien zur Unterstützung der pflegepraktischen Arbeit [sind] nahezu keine belastbaren wissenschaftlichen Belege verfügbar.“ (Seite 14)
Sabine Daxberger interessiert sich für „Neue Technologien in der ambulanten Pflege“ und fokussiert für ihre Masterarbeit auf den Aspekt: „Wie Smartphones die Pflegepraxis (mit-)gestalten“, denn die Taschencomputer „können als permanente Begleiter der Pflegenden bezeichnet werden“, die sich fast immer im selben Raum befinden (Seite 58).
In analogen Zeiten zeigten „Plantafeln“ mit Magnetschildchen die Tourenpläne für alle sichtbar an den Bürowänden. So konnte auch im Blick behalten werden, wen die Kolleg*innen versorgten.
Die Daten auf den Smartphones werden über das Internet, oft von zu Hause aus, aktualisiert. Es wird nur die eigene Tour angezeigt. Weitere Arbeitspläne sind – jeweils einzeln – nur mit Klicks und Geduld zugänglich. Da auf diesem Weg übermittelt wird, welche Pflegebedürftigen zu versorgen sind, sollen wir nicht täglich zu Dienstbeginn ins Büro. Viele kollegiale Absprachen finden, wenn überhaupt, nicht mehr in Kleingruppen, sondern zu zweit, unterwegs, telefonisch statt. Die Pflegenden tragen weniger Verantwortung und arbeiten eher fremdbestimmt: Das war auf dem Display so angezeigt. Die in der Zentrale werden sich schon was dabei gedacht haben. (Seite 62)
Analoge Tourenpläne mussten sich im Wesentlichen darauf beschränken, Namen und Reihenfolge der zu versorgenden Patient*innen zu zeigen. Die Smartphone APP zeigt darüber hinaus grob, welche Arbeiten zu leisten sind. Es gibt auch Vorgaben zur Dauer der Einsätze. „Die geplanten Zeiten scheinen ... sich am unteren Limit zu orientieren.“ (Seite 65) Bei zeitlichen Abweichungen soll eine Begründung eingetippt werden (Seite 66). Die Software zeigt auch Stammdaten der Patient*innen, Namen zu Angehörigen und Arztpraxen mit den passenden Telefonnummern (Seite 79).
Selbstverständlich machen Smartphones auch Geräusche. Wenn ein Anruf eingeht ist das nicht überraschend. Aber auch beim Empfang von Textnachrichten oder eMails ist ein Signal zu hören. Die Software kann auch akustisch warnen, wenn die vereinbarte Betreuungszeit sich dem Ende zuneigt (Seite 80). Dazu sagt eine Pflegende, das Erinnerungssignal sei ihr egal. Es dauere ohnehin so lange wie es dauere. (Seite 81)
„Der hohe Grad an örtlicher Mobilität des Personals ambulanter Pflegedienste lässt den mobilen Endgeräten als Medium zur Kommunikation eine maßgebliche Bedeutung zukommen ... Die steigende Heterogenität der Berufsgruppen innerhalb der ambulanten Dienste führt naturgemäß zur Funktionalisierung von Tätigkeiten.“ (Seite 74) „Grundpflege machen Diplomierte nur in Ausnahmefällen ... Die Veränderungen im Berufsbild muss man akzeptieren‘, sagt die Pflegende.“ (Seite 75) Solche Entwicklungen werden durch die Möglichkeiten der mobilen Endgeräte beschleunigt.
Vor 15 Jahren freuten sich alle, wenn es auch mal ein erkennbares Foto einer Wunde gab. Heute wird es nicht nur als selbstverständlich angesehen, dass Pflegefachkräfte die Technik beherrschen, um brauchbare Wundfotos zu machen. Daxberger zitiert eine Pflegekraft: „Eine Wunddokumentation ohne Foto, das ist keine.“ (Seite 69) Ohne Fotos, die den Heilungsverlauf dokumentieren, gibt es bei vielen Kostenträgern in Deutschland Probleme mit der Bezahlung - das gilt für jede noch so kleine Wundversorgung. Dies ist wieder ein Beispiel dafür, dass die IT den Aufwand, der für Dokumentationen zu treiben ist, erhöhen kann. So bleibt weniger Zeit für die Pflegebedürftigen.
Die über Smartphone und Software erfassten Daten werden an die Kostenträger für Abrechnungszwecke weiter geleitet. So sind die Pflegenden fast direkt „in die Abrechnung eingebunden“. (Seite 110) Daxberger schreibt, die mit den Smartphones erhobenen Daten würden von der Managementebene als Instrumente zur Rechenschaftspflicht genutzt (Seite 13). Da werden alle Pflegekräfte wie selbstverständlich mit dem Kopf nicken. Doch bei der Einführung solcher Systeme wird diese Funktion von den Dienststellenleitungen gern unter den Teppich gekehrt.
In den Pflegediensten, die Daxberger beforscht hat, stehen „die Optionen Anruf, SMS-Nachricht und eMail auch privat uneingeschränkt zur Verfügung.“ (Seite 89) Im Gegenzug wird erwartet, dass die Mitarbeitenden auch in ihrer Freizeit für dienstliche Belange erreichbar sind. (Seiten 89-93) „Die klare Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmt in unterschiedlichem Maße. Eine permanente Verfügbarkeit der Pflegenden über das vom Dienstgeber bereitgestellte mobile Endgerät ist jedenfalls möglich.“ (Seite 92) „Darüber hinaus infiltrieren die Geräte teilweise auch in die Privatbereiche Pflegender,“ (Seite 88) „... im Einzelfall bis ins Schlafzimmer.“ (Seite 122)
Wie vielschichtig der Pflegealltag durch HealthIT Systeme verändert wird, macht diese Studie an einem Beispiel deutlich, dass auf den ersten Blick unproblematisch scheint.
Daxberger beschreibt für Österreich, dass die ambulanten Einsätze pro angefangene 15 min abgerechnet werden. Die reale Dauer jedes Einsatzes müsse, (in der Regel) von den Pflegebedürftigen, abgezeichnet werden. Diese Unterschriften können mit Finger oder mit Spezialschrift auf den Smartphones geleistet werden. (Für Deutschland ist mir nicht bekannt, dass ähnliches gemacht wird.) Sehr detailliert beschreibt die Autorin diesen Prozess und die dabei im Pflegealltag auftretenden Schwierigkeiten.
Der Trend weist dahin, auch in der Pflege mehr und mehr zu digitalisieren. Zur Zeit ist die Regel, dass wichtige Teile der Pflegedokumentation (Pflegeplanung, -berichte, Stammblätter, Medikamentenpläne) auf Papier bei den ambulant versorgten Pflegebedürftigen geführt werden. Sie selbst oder die Angehörigen können also mitlesen, was geschieht. Würden auch diese Informationen nicht mehr auf Papier erfasst, bräuchte es ein Gerät, Software und Zugangsdaten, damit die Pflegebedürftigen ihr gutes Recht auf Dateneinsicht wahrnehmen können. (vergleiche Seite 115).
„Die Aufteilung der papierbasierten Pflegedokumentation entlang des Pflegeprozesses einerseits und die Erfassung abrechenbarer Leistungen über mobile Endgeräte andererseits führt zu einer Trennung pflegefachlicher und abrechnungsrelevanter Daten.“ (Seite 124) „Durch die Digitalisierung des dokumentierten Pflegeprozesses [kann] lediglich ein Teil pflegerischen Wissens und pflegerischer Leistungen erfasst werden. Derzeit sind nur diese abrechnungsrelevant.“ (Seite 116) Daxberger schreibt von „der Problematik der mangelnden Technikgänigkeit“ von pflegerischen Leistungen (Seite 14). Daraus folgt: der Vorrang der Betriebswirtschaft vor der Pflege in den Pflegeeinrichtungen wird mittels HealthIT verfestigt. Aus dem Alltag in Krankenhäusern wird berichtet, dass die Kranken „zunehmend zu Datenträgern und die Pflegenden zu Vermessungstechnikern würden“ (Seite 14).
Wenn der deutsche Gesundheitsminister 2018 die „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ voran treiben will, lässt er offen, ob Pflegebedürftige und Pflegende bei der Umsetzung solcher Forderung mit gestalten oder nur Objekte bleiben sollen. Dass es hier viele ungeklärte Fragen gibt, lässt sich in diesem Text mannigfaltig lesen.
Am Rande: Es fällt leicht, als Deutsche in Deutschland nicht über den Tellerrand zu blicken – Gesundheitspolitik ist national betrachtet schon überkomplex. Das Gesundheitssystem Österreichs beruht „auf den drei Grundwerten Solidarität, Leistbarkeit und Universalität“. Ich werde über diese Formel noch häufiger nachdenken.
Das Buch ist aus einer Masterarbeit entstanden. Überlegungen zu Theorie und Methoden nehmen einen breiten Raum ein. Das sollte anderen Pflegeforschenden ähnliche Projekte deutlich erleichtern. Menschen aus der Pflegepraxis wird verständlich, was Pflegewissenschaft zu leisten vermag, wenn sie seriös betrieben wird.
Dass Pflegende IT Prozesse gestalten, das sie darüber bestimmen, welche Hard- und Software ihren Arbeitsalltag erleichtert oder vermüllt ... Ich habe es nicht erlebt. Liebe Kolleg*innen: Läuft‘s bei Euch besser? Dann legt Euch einen dicken Notizblock beim Durcharbeiten dieses Buches zurecht. Es werden Euch viele nützliche Ideen kommen!
Ich empfinde die Arbeit von Daxberger als Ermutigung, mich ernsthaft und grundsätzlich mit der Frage zu befassen, wie sich die Pflegepraxis ändert und welche Auswirkungen auf die Lebensqualität der Pflegebedürftigen die HealtIT hat.
Georg Paaßen
Sabine Daxberger:
Neue Technologien in der ambulanten Pflege. Wie Smartphones die Pflegepraxis (mit-)gestalten
Mabuse Verlag, Frankfurt am Main, 2018, broschur, 135 Seiten, 24,95€
Seitenzahlen beziehen sich auf die 1. Auflage, 2018
📎 Das Zitat: „Der Gedanke, dass Roboter Pflege ersetzen könnte, kommt von einem beinahe diskriminierenden und sehr verkürzten Verständnis pflegerischen Handelns.“ von Christian Buhtz (Boston Dynamics) habe ich in einem Interview gelesen: „Missing Link: "Es gibt keine Pflegeroboter“, erschienen auf www.heise.de, 1. Juli 2018
📎 Jens Spahn hat viel vor, erschienen auf www.fr.de am 15. März 2018
📎 Unsere Rezension zu: Pflegearbeit in Zeiten der Ökonomisierung. Wandel von Care-Regimen in Großbritannien, Schweden und Deutschland von Diana Auth, Münster, 2017